Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Stadtbibliothek
Typ:
Bibliothek
Ort:
Calgary [Satellit]
Staat:
Kanada
Architekt:
Snøhetta 🔗, Oslo
Materialien:
Beton, Aluminiumfassade, Glas
Publiziert:
SBD 03/2019
Seiten:
70 - 79
Inhalt:
[Artikel]  [2]      
 

Neue Stadtbibliothek von Calgary, CDN

Urbane Schnittmenge

Im kanadischen Calgary hat das norwegische Architekturbüro Snøhetta eine neue Stadtbibliothek realisiert. Um den knappen Innenstadtraum effektiv zu nutzen, wurde mit dem Projekt die Kurve einer viel befahrenen Stadtbahntrasse überbaut.
Anders als man vielleicht im digitalen Zeitalter erwarten würde, ist Calgary eine extrem Bücher-affine Großstadt. Allein am Eröffnungstag der neuen Bibliothek wurden 12.500 Besucher gezählt. Tatsächlich besitzen 670.000 der insgesamt 1,3 Mio. Calgarianer einen Bibliotheksausweis, den sie auch regelmäßig nutzen. Die Architekten des norwegischen Büros Snøhetta sehen als Ursache vor allem einen politischen Willen, öffentliche Innenräume zu schaffen, in denen man sich mit Muße aufhalten kann, ohne dabei Geld ausgeben zu müssen. Beheizte, attraktive Orte, die auch in langen Wintern eine Aufenthaltsqualität und lange Öffnungszeiten besitzen. Dennis Rijkhoff, Ingenieur bei Snøhetta vergleicht den Bau mit antiken Bibliotheken, die ebenfalls nie ausschließlich nur Bücherspeicher, sondern auch Orte des Lernens und der Kommunikation waren. Als Beispiel nennt er die berühmte Bibliothek von Alexandria, deren 2002 eingeweihter, zeitgenössischer Nachfolgebau ja ebenfalls von dem Büro stammt, in dem er tätig ist.
Der fünfgeschossige Neubau liegt auf einer spitz zulaufenden Restfläche zwischen der 3rd Street South- East und einem Kurvenstück der Stadtbahn. Diese fährt ebenerdig an der Nordseite in das neue Gebäude hinein, beschreibt darin besagten Bogen und taucht dabei in den Untergrund ab. Insofern betrachtet auch Ian Washbrook, Ingenieur beim mit der Tragwerksplanung beauftragten Büro Entuitive in Calgary die Integration der Stadtbahntrasse in das Bauwerk als die größte konstruktive Herausforderung dieses Projekts. Denn selbst eine zeitweilige Stilllegung des Linienverkehrs war vollkommen ausgeschlossen, alle Arbeiten waren unter dem "Rollenden Rad" auszuführen. Konstruktiv löste man die Aufgabe, indem man die Trasse mit bis 55 m langen und bis zu 200 t schweren Betonträgern überdachte. Alle Binder konnten nur nacheinander gesetzt werden. Sie mussten unmittelbar mit der anstehenden Bewehrung verschweißt und vergossen werden, erst dann war das Platzieren eines Folgeträgers möglich.
Die Grundrissform der Bibliothek ergab sich letztlich aus dem Grundstückzuschnitt. Sie erinnert an eine Schnittmenge der mathematischen Mengenlehre – die gemeinsame Fläche zweier sich durchdringender Kreise. Das Zentrum der Bibliothek besetzt eine große, gebäudehohe, erneut schnittmengenartige Treppenhalle, die auf ihrer Westseite von der Stadtbahn umfahren wird. Die von einem großen Skylight belichtete Halle nimmt rund ein Viertel der Grundrissfläche ein und besitzt Zugänge an ihrer Ost- und Südseite. Sie ist geprägt von zedernholzverkleideten Flanken, die den Blick über Brüstungen hinweg in die offenen Präsenzbereiche der Bibliothek freigeben. Der Gesamteindruck der Holzverkleidung ist der einer Schar geschwungener Bänder, die die Geschosse miteinander verbindet: Tatsächlich sind alles einläufige Treppen, die bis zu 10 m weit auskragen. Mitunter greifen die Zedernholzflächen auch von einer Ebene in die folgende über. Um den transparenten Charakter der Ebenen in diesen Bereichen dennoch zu erhalten, durchbrachen hier die Architekten die geschlossene Holzstruktur oberhalb der Brüstung und führten über diese internen Öffnungen senkrechte Scharen aus engstehenden Holzlamellen hinweg.
Abseits des Foyers besitzt der Bau einen subtilen Beton-brut- Charakter: Auf bis zu 12 m weit spannenden Sichtbetonunterzügen liegen ebensolche Deckenflächen auf. Die Dramaturgie des Hauses sieht eine nach oben zunehmende Stille vor. Im Erdgeschoss finden sich die Orte der Begegnung und ein Café. In den Obergeschossen folgen zunächst der Lesesaal, ein Hörsaal, die Kinderbuchabteilung und erst dann beginnen die ruhigen Bereiche für ein konzentriertes Arbeiten. Gleichwohl die ganze Bibliothek behindertengerecht angelegt ist, bilden Stufen und Podeste ein wichtiges Gestaltungselement des Hauses. So finden sich auch neben den Treppenläufen im Foyer podestartige Abgänge zwischen den Geschossen, die zum Hinsetzen und zum Verweilen einladen. Das Gebäude besitzt eine Aluminiumfassade, die sich aus hexagonalen Feldern zusammensetzt. Dabei sind deren Innenflächen entlang einer senkrechten Mittellinie gruppiert. Häufig sind die so entstandenen Teilflächen mit einer dreifachen Festverglasung durchbrochen, über die der Bau neben dem großen Treppenhallenoberlicht belichtet wird.
Robert Mehl, Aachen