Projektart:
Anfrage:
Objekt:
2014 FIFA World Cup Brazil
Typ:
Fußball Weltmeisterschaft
Ort:
diverse [Satellit]
Staat:
Brasilien
Architekt:
diverse
Materialien:
überwiegend Betonfertigteiltribünen
Publiziert:
DBZ-Stadionheft 2014-3
Seiten:
6 - 7
Inhalt:
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Ein Interview mit Knut Stockhusen

Leichtbau rechnet sich

Das Stuttgarter Ingenieurbüro schlaich bergermann und partner (sbp) betreut regelmäßig große Stadionprojekte in der ganzen Welt. Wir sprachen mit Knut Stockhusen, Direktor von schlaich bergermann und partner do Brasil.
Die Stadien in Brasilien, die von Ihnen statisch betreut wurden, besitzen sehr häufig eine Ringseildachkonstruktion. Was ist deren Vorteil?
Hauptsächlich geht es darum, große Flächen effizient und stützenfrei zu überdachen und dabei ohne eine schwere Unterkonstruktion auszukommen. Seildächer sind sehr vielseitig und es lassen sich einzigartige Varianten entwickeln, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Repertoire ist noch lange nicht ausgeschöpft. Beim Maracanã- Stadion gibt es zudem eine denkmalgeschützte Fassade. Das Projekt war im wahrsten Sinne des Wortes „Bauen im Bestand“, da diese natürlich zu erhalten war. Immer im Blick der IPHAN, der brasilianischen Denkmalschutzbehörde, haben wir eine für das Stadtbild passende Lösung erarbeitet. Hierfür musste ein System gefunden werden, das unauffällig mit dem Bestand umgeht und das Projekt gleichzeitig in das 21. Jahrhundert leitet. Hier bot sich ein Ringseildach an. Dessen großer Vorteil ist es, dass es sich um ein in sich geschlossenes System handelt. Es schließt die Kräfte kurz und führt fast ausschließlich vertikale Auflagerkräfte nach unten ab. Deswegen kann es gut auf Bestandskonstruktionen, die in der Regel nur eine begrenzte Lastkapazität haben, aufliegen. Im Maracanã- Stadion gibt es 60 bestehende Achsen, die zuvor ein Kragdach aus Beton trugen. Diese „Rippen“ wurden bis zur Fassade abgeschnitten, allerdings blieben deren vertikale Rahmenteile erhalten. Diese nutzten wir allesamt, um neue Auflagerpunkte für das Ringseildach anzulegen.
Bei dem riesigen Maracanã- Dach gibt es sicherlich großen thermischen Zwang, der besondere horizontal verschiebliche Auflager erfordert. In was für Dimensionen bewegen wir uns dabei?
Das sind tatsächlich nicht zu unterschätzende Effekte und Verformungen, mehrere 10 cm, die sich das Dach horizontal durch Temperatur und Wind bewegt. Vertikal ist es mehr, die maximale Amplitude in der Stadionmitte kann bis zu 1 m betragen. Ausgelöst werden kann so eine Bewegung etwa durch große Wind- oder Hagellasten, die es nach unten drücken, oder sturmbedingte Sogkräfte, die es wiederum großflächig anheben können. Wichtig dabei ist – und das ist ein weiterer Vorteil des Ringseildaches – dass es in sich stabil ist. Sie könnten theoretisch das Dach auf einmal abheben und auf andere 60 Auflagerpunkte absetzen.
Also quasi wie der Deckel von einem Topf?
Genau! Der Vorteil einer solchen Auflagerung ist, dass es aufgrund der besonderen Lagerung keine Temperaturzwängungen gibt. Am Maracanã- Stadion befinden sich nur vier tangentiale Horizontallager, über die windbedingte Kräfte aufgenommen und in den Bestand nach unten abgeleitet werden. Alle weiteren 56 Auflagerpunkte sind reine Vertikallager. Das Dach ist an diesen Punkten schwimmend gelagert.
Sind solche Ringseildächer in der Konstruktion günstiger als konventionelle Kragdächer?
Es gibt sicherlich eine Größenordnung, etwa bei kleineren Stadien, in der ein herkömmliches Kragdach die wirtschaftlichere Variante darstellt. Allerdings nicht mehr bei diesen Dimensionen. Bei einer reinen Dachtiefe von 70 m und einem Grundriss mit einer Größenordnung von rund 300 m ist ein Ringseildach deutlich wirtschaftlicher als jedes Kragdach oder weitere alternative Lösungen. Hierbei denke ich z.B. an große Fachwerkträger, die brückenartig über ein Stadion spannen und von denen das Dach mit Seilen oder weiteren Trägern abgehängt ist. Bei einer Ringseilkonstruktion ist die Idee mit möglichst wenig Material große Flächen zu überdachen. Mit dem vorgespannten Seilsystem, das innerhalb des Druckrings in sich verspannt ist, wird eine stabile, tragende Unterkonstruktion der Dachhaut generiert, die ebenfalls sehr leicht ist und große Kräfte aufnehmen kann. Die eigentliche Dachhaut kann aus unterschiedlichen Materialien bestehen, es bieten sich aber leichte, hochfeste Membranmaterialien an. Bei anderen Konstruktionen muss immer ein Großteil der Tragkraft dafür aufgebracht werden, dass das Bauwerk sich selber trägt. Das ist hier nicht der Fall. Das Verhältnis von Eigengewicht zu externer Last ist hier weitaus günstiger als bei anderen Systemen.
In den Unterlagen von gmp zum Stadion von Belo Horizonte ist ebenfalls die Rede von einer Ringseilkonstruktion. Auf den Fotos sieht man jedoch Fachwerkträger. Ist dies eine Sonderform eines Ringseildaches, bei dem Fachwerkträger anstelle von Seilen hin zu einem mittigen Zugring gespannt wurden?
Belo Horizonte ist ein gutes Beispiel dafür, dass Ingenieure und Architekten oft eine hervorragende Konstruktion entwerfen, die aber den Widrigkeiten des Baualltags geopfert wird. Um es kurz zu machen: In Belo Horizonte haben wir etwas anderes entworfen als das, was die ausführenden Firmen gebaut haben. Unser Entwurf wäre wesentlich behutsamer mit dem denkmalgeschützten Bestand umgegangen, insbesondere der frühere Innenraumcharakter wäre erhalten geblieben. Ausgeführt wurde nun eine Verlängerung der Betonkragarme durch Stahlfachwerkträger. Diese setzen an der alten Kragkonstruktion an. Der Beton musste nicht nur aufwendig saniert, sondern auch noch sichtbar extern verstärkt werden, um die Zusatzlasten überhaupt aufnehmen zu können. Ein neues Ringseilsystem, welches unabhängig unter dem Kragdach steht, hätte dann ein weiteres schwebendes Ringseilsystem mit der neuen Dachhaut getragen. So hätte man in einer einfachen, machbaren und doch einzigartigen Konstruktion den in seiner Urform erhaltenswerten Bestand vorbildlich gesichert.
Das Stadion von Manaus basiert auf einer ganz anderen Konstruktion. Diese beruht auf einem rautenartigen Geflecht von Stahlträgern. Wie funktioniert das genau?
Im Prinzip funktioniert die Arena da Amazônia von Manaus wie ein Schalentragwerk. Sie ist als eine Gitterschale mit sich kreuzenden Tragwerkselementen angelegt. Die Fußpunkte sind alle gelenkig gelagert, um in momentenfreien Auflagerkräften zu resultieren. Damit das funktioniert, muss die Schale in sich ausgesteift sein, weshalb am inneren Dachrand ein Druckring und am so genannten Traufknick zudem ein Zugring platziert wurden. So wurde ein ausgesprochen effizientes System konstruiert, das mit einer überschaubaren Tonnage auskommt und zudem noch wunderschön aussieht.
Die Struktur aus einem anderen Material, etwa aus Stahlbeton, zu bauen, stand aber nie zur Diskussion, oder?
Nein, denn auch hier verhält es sich ähnlich wie bei einem Seiltragwerk, das Gewicht zählt – im Sinne der verbleibenden Tragkapazität. Je mehr Eigengewicht ansteht, desto weniger Kapazität bleibt am Ende für die zu berücksichtigenden Lasten. Da bietet sich Stahl einfach an. Die Zeiten, in denen man in Brasilien oder anderen Teilen der Welt nur Kragdächer und nur aus Beton baute, sind wohl endgültig vorbei.
Alle Stadien, die unter deutscher Beteiligung in Brasilien zur WM entstanden sind, wurden von deutschen Ingenieurbüros aus Stuttgart betreut. Sie haben allein vier betreut, an Saõ Paulo war das Büro von Werner Sobek beteiligt und Salvador de Bahia wurde von RFR geplant. Ist das Zufall?
Aus Ingenieurssicht beruht das sicherlich darauf, dass Fritz Leonhard einst hier gelehrt und Jörg Schlaich und Rudolf Bergermann bei den ersten Leichtbauideen als Ingenieure geholfen haben, sie zu realisieren. Sie sind die Wegbereiter der modernen Ingenieurskunst und waren so etwa für das Dach des Münchner Olympiastadions mitverantwortlich. Diese Basis, die Realisierung von über 30 Stadien und unsere Innovationskraft, sind das Reservoir aus dem wir zukünftig Kraft für massen- und energieeffizienten Tragwerke schöpfen werden.
Robert Mehl, Aachen