Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Eurogare
Typ:
Bahnhof
Ort:
Staat:
Belgien
Architekt:
Santiago Calatrava 🔗, Zürich
Materialien:
Stahl, Beton (derzeit)
Publiziert:
metallbau 11/2017-1
Seiten:
6 - 13
Inhalt:
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Der Hauptbahnhof in Mons/Belgien

Ein Kirchenschiff quer über die Gleisen

Derzeit baut der Stararchitekt Santiago Calatrava im belgischen Mons einen neuen Hauptbahnhof. Die Stahlkonstruktion der kathedralenartigen, quer über die Gleise spannenden Bahnhofshalle wird derzeit neben den Gleisen errichtet und in sieben einzelnen Schüben über die durchgehend genutzten Schienentrassen gefahren.
Städtebaulich wird der neue Bahnhof, der just an derselben Stelle wie sein Vorgängerbau stehen wird (ein seitliches Provisorium ersetzt diesen derzeit), als Brücke angesehen, die das südöstlich der Gleise gelegene Zentrum mit einer Stadterweiterung verbinden soll, die derzeit nordwestlich der Gleise entsteht. Dieser dereinst geschlossene Baukörper besitzt einen langgestreckten Innenraum, dessen Flanken in zehn Joche unterteilt sind, und wird von einem nach unten offenen Satteldach bekrönt. Er erinnert an eine römische Basilika, mithin an das Hauptschiff einer Kirche. Das 165,5 m lange, 14,70 m breite und 15,80 m hohe Volumen soll in Zukunft nicht nur als Verbindungsbrücke, sondern auch als 4.740 m² große Shopping Mall dienen. An beiden Stirnseiten wird der Bau von großen Freitreppen abgeschlossen, über die sich zwei jeweils 31 m auskragende Baldachine erstrecken werden.
Seitlich gehen fünf „Bahnsteige“ ab. Der Begriff steht in Anführungsstrichen, da nur drei von ihnen zu den Gleisen führen, die zwei übrigen hingegen zu einem Omnibusbahnhof, der unmittelbar neben den Gleisen eingerichtet wird. Während die Hallenkonstruktion im Bereich der fünf „Bahnsteige“ problemlos von bis zu 4,5 t schweren, teilweise massiv aus Stahl gefertigten Stahlrundstützen getragen wird, ist dies auf der nordwestlichen Seite nicht möglich. Hier entsteht mit Fertigstellung des Bahnhofs eine neue Gleisharfe zum Abstellen der Züge. Die Halle wird hier 70 m weit stützenfrei spannen.
Gleitender Übergang
Die Hallenkonstruktion ist ein reiner Stahlbau, der in verschiedene Baulose aufgeteilt ist und derzeit von fünf verschiedenen Stahlbaufirmen realisiert wird. Dabei wird die Halle auf der Brache nordwestlich der Gleise Joch für Joch zusammengesetzt.
Immer dann, wenn die nordwestliche Grenze des Baufeldes erreicht ist, wird die gesamte Konstruktion auf Gleitlagern um rund 16 m ein Stück weiter über die Gleise geschoben. So entsteht wieder Platz, um ein weiteres Joch anzusetzen.
Die erste Einheit war die mit Abstand größte, sie umfasste fünf Joche sowie den südöstlichen Hallenabschluss, quasi den Chor der Basilika. Noch nicht montiert wurde der dazugehörige Baldachin; dies geschieht erst mit Erreichen der finalen Hallenposition. Logistische Erwägungen führten zu dem Rhythmus, dass abwechselnd zwei Joche und dann ein einzelnes gestellt werden. Insgesamt wird es sieben Schübe geben, bis die Halle ihre finale Position erreicht hat.
Für die Vorwärtsbewegung ruht die gesamte Stahlkonstruktion auf temporären Gleitlagern, ihre permanenten Auflager im Bereich der Bahnsteige erreicht sie erst sehr spät. Zwölf temporäre Lager, sechs für jeden der zwei Hauptträger, werden es am Ende sein, die den Stahlbau in der Rohbauphase tragen. Aktuell ruht die Konstruktion auf nur vieren.
Der zwischenzeitlich insolvente Stahlbaukonzern Cordioli – der zuerst mit der Erstellung der gesamten Stahlkonstruktion beauftragt war – entschied, den Vortrieb der Hallenkonstruktion auf Teflongleitlagern und nicht auf Rollen auszuführen. Zur Begründung seiner Entscheidung wies er nach, dass, sofern auf der Teflonschicht ein mit dem Hallenuntergurt verklebtes Edelstahlband gleitet, der Reibungswiderstand nur 5 % beträgt und das diese Querkraft nicht ausreicht, um die Standsicherheit der temporären Stützen zu gewährleisten.
Der Vortrieb wird mittels zweier hydraulischer Seilzuganlagen erzeugt, die jeweils unter dem Hauptträger platziert werden, zu runden Bündeln angeordnete Seilscharen quasi schlupfsicher „greifen“ und pro Zylinderhub um rd. 20 cm verziehen. Während des Zugmanövers sieht man, dass dieser Zylinder langsam ausfährt und dabei die gesamte Stahlkonstruktion über sich mitzieht. Nach vielleicht 4 min ereicht die Mechanik ihre maximale Auslenkung, das Seil löst sich aus der Umklammerung und die Hydraulik fährt für den nächsten Zug wieder ein. Eine zwischenzeitliche temporäre Seildehnung scheint bei dem Zugverfahren kein Thema zu sein.
Die Seilschar wird immer wieder neu an dem jeweiligen Ausbauende der Rohbaukonstruktion befestigt, die Zugmechanik bleibt während des gesamten Bauprozesses an ihrer ersten Stelle. Insofern werden bei jedem der sieben Züge immer wieder dieselben, vielleicht 25 m langen Seilpaare neu durchgezogen.
Rohbaukonstruktion
Die zehn Seitenjoche und auch die jeweils drei Chorjoche der Stirnseiten werden vor Ort auf der Baustelle zusammengesetzt, da sie bei weitem zu groß für einen Schwertransport sind. Die Montage der Segmente erfolgt liegend auf dem Boden und erinnert an den Abbindeplatz eines Zimmermanns für einen Holzdachstuhl. Bereiche dieser Elemente erhalten kleine Einhausungen aus Wellblech, die es den Schlossern erlauben, die umfangreichen Schweißarbeiten wetterunabhängig vorzunehmen. Mit einem schweren Baukran und einem diesen unterstützenden Autokran mit extra langem Arm werden die Bauteile schließlich an ihre vorgesehene Stelle gehoben.
Bis zu ihrer kraftschlüssigen Verschweißung liegen die einzelnen, spitz zulaufenden Jochelemente temporär auf einem gut 14 m hohen, innenliegenden Stahlgerüst, das in der Achse der Hallenkonstruktion auf Schienen verfahren werden kann. Ganz oben weist es eine große Arbeitsebene auf, die es den Metallbauern ermöglicht, die einzelnen Abschnitte des Joches und insbesondere den nachträglich darauf aufgelegten, am Ende durchlaufenden Obergurt präzise einzuschweißen. Dabei wird jede vollendete Schweißnaht durch einen Techniker auf ihre elektrische Leitfähigkeit hin überprüft, um so frühzeitig Schweißfehler zu erkennen.
Während im Bereich des Untergurtes der Hallenkonstruktion unmittelbar unterhalb der künftigen Fußbodenebene mit Verschraubungen gearbeitet wird, erfolgt im Bereich der Obergurte und der einmal durchlaufenden Firstlinie ein Materialverbund durch Schweißen. Dazu werden die per Kran eingehobenen Obergurtsegmente erst temporär mit jeweils 2 cm dicken Laschen fixiert. An den Elementstößen haben die Ingenieure großzügige Abkantungen bzw. Nuten vorsehen lassen, die nunmehr eine im Schnitt 3 x 3 cm große Fuge ergeben. Diese hat der Schweißer nun mit Material vollständig auszufüllen und hinterher sauber beizuarbeiten. Dabei entfernt er auch die beeindruckend großen temporären Laschen. Das Verschweißen im Bereich des Firstes ist der späteren Sichtbarkeit geschuldet.
Unterhalb des Fußbodens wird ein Hohlraum entstehen, der auch von unten mit Blechen verkleidet wird. Dieses durch Wartungsluken zugängliche Volumen wird die gesamte Haustechnik mit ihren Leitungstrassen aufnehmen. Damit werden auch die hiesigen Verschraubungen nicht mehr sichtbar sein; die gesamte Stahlkonstruktion des Daches ist hingegen in ihrer Untersicht offen.
Bewegte Zahlen
Der Untergurt oder Hauptträger ist 1.400 mm hoch und besitzt eine Breite von 800 mm, seine Flanschstärke variiert zwischen 30 und 80 mm. Dies ist einerseits durch die unterschiedlichen Lasten begründet, die in die Konstruktion eingeleitet werden, zum anderen liegt dies an der geplanten Vorspannung. Sie ist erforderlich, um im Bereich der zukünftigen Gleisharfe die gesamte Konstruktion über 70 m weit frei zu spannen. Infolge der geplanten Vorspannung und der in dieser Bauphase bei weitem noch nicht eingebrachten Lasten weist der Träger eine mit dem menschlichen Auge nicht wahrnehmbare S- Form auf; sie wird bei der Anlage der temporären Gleitlager jedoch berücksichtigt. Die temporären Trageinheiten weisen zudem eine seitliche Führung auf, die ein „Runterrutschen“ der Stahlkonstruktion verhindert. Die horizontale Bewegung wird etwas oberhalb der finalen Lagerposition durchgeführt. So kann die Konstruktion problemlos über die finalen Stahlrundstützen und die bereits errichteten, in Beton ausgeführten Bahnsteigabgänge geschoben werden. Mit Erreichen der finalen Position wird die gesamte Stahlbaukonstruktion präzise in einem Manöver abgesenkt. Insgesamt wird die Hallenkonstruktion 6.000 t wiegen, das maximale Verschiebegewicht beträgt jedoch „nur“ 4.300 t. Während der Stahlbauphase wird aus Gewichtsgründen auf das Einbringen der finalen Bodenplatte verzichtet. Derzeit besteht diese nur aus Trapezblechen, die einmal als verlorene Schalung dienen werden. Nach Erreichen der finalen Hallenposition wird auf diese eine Stahlbewehrung gelegt und dann mit Ortbeton vergossen.
Auch der gesamte Fassadenbau wird erst am finalen Standort beginnen. Als zu groß wird das Risiko eingeschätzt, dass sich sonst Teile der über 30.000 m² großen Dachfläche verziehen und insbesondere die Verglasung springen könnte.
Untergrund
Tatsächlich waren die künftigen Bahnsteigabgänge mit das erste, das vor zwei Jahren vom Bahnhof errichtet wurde. Sie bestehen genau wie die ausgedehnten Untergeschossbereiche des neuen Bahnhofs zu beiden Seiten der Gleise überwiegend aus Betonfertigteilen. Sie werden dereinst vornehmlich als Parkhäuser mit jeweils rd. 600 Stellplätzen dienen. Die expressive Formensprache der Elemente erinnert an die Parkhaus- bzw. Böschungskonstruktion des 2009 fertiggestellten neuen Bahnhofs Lüttich, ebenfalls ein Bau von Calatrava.
Ein interessanter Aspekt in Mons ist, dass auf der Decke der zuerst fertiggestellten Tiefgarage sowohl die Baukräne wie auch die Gleitlager und die Zughydraulik der Hallenkonstruktion aufgestellt wurden. Für die sich daraus ergebenden Mehrlasten ist diese Decke natürlich nicht ausgelegt, weshalb im Untergeschoss, exakt unter dieser ein temporärer Wald aus Stahlstützen errichtet wurde.
Kein Drache
Calatravas allererste Studie zu dem neuen Bahnhof von Mons arbeitete schon mit dem Konzept eines Einkaufszentrums, jedoch sah er an einem Kopfende noch einen zusätzlichen Pylon vor. Damit wollte er eine Drachenassoziation hervorrufen, da dem Fabeltier in Mons mit dem „Doudou“ alljährlich ein Volksfest gewidmet ist, das zum immateriellen Weltkulturerbe der Unesco zählt. Tatsächlich fiel der Pylon Sparzwängen zum Opfer und vom Drachen, den die Bruderschaft des Hl. Georg 1380 hier erlegt haben will, blieb nur ein Rumpf und - je nach Betrachtungsweise - ein offenes Maul übrig, in das man sich wohl irgendwann nach 2019 begeben kann.
Robert Mehl, Aachen