Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Napoli - Super Modern
Typ:
Buchkritik
Ort:
Neapel [Satellit]
Staat:
Italien
Architekt:
Materialien:
Beton, Naturstein, Ziegel, Stahl, Glas
Publiziert:
baublatt 03/2021
Seiten:
30 - 33
Inhalt:
[Artikel]      
 

Buchbesprechung "Napoli Super Modern"

Lesereise nach Neapel

Der Zürcher Verlag Park Books hat ein A4-Hardcocer herausgegeben, das auf 232 Seiten Bauten der Moderne vorstellt, die in Neapel zwischen 1930 und 1960 entstanden sind. Das englischsprachige Werk bewegt sich im Übergang von Architektur und Städtebau und fragt nach den Lehren für heute.
Das Buch betrachtet die Zeitspanne zwischen 1930 und 1960 und beginnt chronologisch mit dem Fischmarkt von Luigi Consenza. Der zwischen 1929-35 entstandene Bau am Hafen ist von seinem gewölbten Tonnendach geprägt, das aus einem engmaschigen Netz aus Glasbausteinen besteht. Ihm folgt das Fährterminal von Cesare Bazzani aus dem Jahr 1936 sowie die hochurbanen Bauten im Stadtteil Rione Carità, wie das Post- oder das Finanzamt. Das letztere ist von Marcello Canino, der seinerzeit eine führende Persönlichkeit der neapolitanischen Architekturszene war und dessen Werk und Einfluss sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.
Auch die Villa Oro, erneut von Luigi Consenza, diesmal zusammen Bernard Rudofsky entworfen und realisiert zwischen 1934-37, ist ebenfalls ein Bau aus faschistischer Zeit. Das auf einem Felsvorsprung errichtete Wohnhaus entspricht im Alter und Rezeption der etwa zeitgleichen, weit berühmteren Villa Malaparte auf dem nahen Capri. Auf Letztere wird sich im Buch wiederholt bezogen, auch wenn sie nicht Gegenstand desselben ist.
Es folgen die drei Bauten der Mostra Triennale aus dem Jahre 1940, der albanische Pavillon, der Goldene Würfel sowie das Teatro Mediterrano. Die Ausstellung bestand noch aus zahlreichen weiteren Bauten, die jedoch entweder temporärer Natur waren, oder die den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fielen.
Der Wiederaufbaus Neapels erfolgte durch weitgehend dieselben Architekten. Dazu zählt auch ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus aus dem Jahr 1948, dessen Schöpfer einmal mehr Luigi Consenza ist und auf dessen besondere Qualität später noch einmal eingegangen wird. Die Jahre des Wiederaufbaus waren aber auch geprägt durch einen von Investoren getragenen Bauboom, mit dem insbesondere das Stadtzentrum mit mittelgroßen Hochhäusern nachverdichtetet wurde. Bis heute das umstrittenste Bauwerk der Stadt ist das Hochhaus der Societa Cattolica Assicurazioni – ein Hybrid aus Wohnen, Hotel, Verwaltung und Einzelhandel. Der Herausgeber Umberto Napoli bricht im Buch eine Lanze für den Bau der Architektin Stefanie Filo Speziale. Sie war in Absprache mit der damaligen Denkmalpflege bestrebt, mit dem Turmbau nicht die durchgängige Traufhöhe der Straßenflucht zu brechen und schaltete diesem ein Volumen in Höhe der Blockrandbebauung vor.
Filo Speziale war eine Schülerin Marcello Canino's und in dieser Zeit die einzige Frau, die sich in den höheren Zirkeln der italienischen Architekturszene bewegte. In der rückblickenden Bewertung ihres Schaffens ist sich die heutige Kritik uneins, welches ihrer Bauten ihr bedeutendstes Werk darstellt: Dieses Hochhaus, das unterirdische Kino metropolitan, das sie in Neapels Tuffsteinfelsen treiben ließ, oder der Palazzo della Morte, ein weiterer, exklusiver Wohnkomplex an den steilen Felshängen der süditalienischen Metropole. Dieser zwischen 1954-60 entstandene und damit jüngste Bau dieses Buches gruppiert sich, trotz seiner Randlage an einer Felsklippe um einen Innenhof, der durch zahlreiche, aufgeständerte Rampen auch in der dritten Dimension durchwirkt und erschlossen ist.
Lesen als aktive Aufgabe
Neapel lebt in diesem Buch! Tatsächlich fordern die beiden Herausgeber Benoit Jallon und Umberto Napolitano dem Leser einiges bei seiner Lektüre ab. Es ist keine leichte Kost, die man gemütlich im Lesesessel vernascht: Es ist mehr: Es ist nachhaltig und der abschließende Erkenntnisgewinn groß. Aber die Lektüre bedeutet echte Arbeit. Immer wieder werden in dem 232-seitigen Werk, das nur in englischer Sprache vorliegt, Themenkomplexe am Rande angesprochen, die zu seinem Verständnis essentiell oder zumindest interessant zu erfahren wären, aber zu deren Beantwortung man das Internet, vor allem Wikipedia bemühen muss.
So fragt man sich, warum die Star- Architekten des Faschismus so übergangslos Neapel nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben? Es ist so, als ob Albert Speer das kriegszerstörte Berlin wiederaufgebaut hätte und zum Dank dafür auch noch Dekan der TU Berlin in den 1950er Jahren geworden wäre. Eine Antwort könnte sein, dass nach der Absetzung Mussolinis als Ministerpräsident durch das Parlament 1943 der Faschismus in Italien formal beendet war und die italienische Gesellschaftsstruktur de facto ungebrochen weiter existierte – auch wenn das wenig erfreute Deutsche Reich daraufhin im besetzten Norditalien die Marionettenrepublik Salò errichtete und Mussolini dort als Herrscher einsetzte. Dort wurde er schließlich bei Kriegende im April 1945 von kommunistischen Partisanen standrechtlich erschossen.
Ein anderes spannendes und weiterführendes Thema ist der Untergrund, auf dem Neapel steht. Es handelt sich um Tuffstein, der vulkanischen Ursprungs ist – zurückzuführen auf das vulkanische Umfeld mit dem Vesuv im Südosten und den Phlegräischen Feldern (ebenso vulkanisch aktiv) im Nordwesten der Stadt. Viele der im Buch besprochenen Gebäude, wie z.B. die Villa Oro, sind auf dem leicht zu schneidenden Tuffstein gegründet. Außerdem entstand aus dem Felsmaterial die faszinierend anrüchig-dunkle "Unterwelt" Neapels aus Grotten, Kavernen und vielstöckigen Kellergewölben – eine Stadt unter der Stadt.
Illustrative Verwirrung
Die eigentliche Herausforderung stellt jedoch die zunächst als unlogisch wahrgenommene inhaltliche Struktur des Buches dar. Mit fortschreitender Lektüre erweist sich diese als vitale Qualität, insbesondere, wenn die zum Verständnis unerlässliche zweite Buchhälfte erreicht ist. Ebenso irritierend und scheinbar wahllos angeordnet mutet die Platzierung der zahllosen Abbildungen des Architekturfotografen Cyrille Weiner in sechs Bildstrecken an. Großzügig arrangiert mit einem Bild pro Seite separieren sie die fünf Essay's des ersten Buchteils voneinander. Dieser ist sicherlich auch aufgrund eines sinnfälligen Passepartout- Charakters in weißem Papier angelegt. Zwar sind die Aufnahmen der 18 vorgestellten Projekte zu kleineren Bildabfolgen gebündelt, aber deren Reihenfolge scheint subjektiv festgelegt zu sein. Sie orientiert sich nicht an der inhaltlichen Reihenfolge der präsentierten Projekte. Möglicherweise ist die Bildabfolge auf formal-architektonische Verwandtschaften der Bauten zurückzuführen, die die Herausgeber meinen zu erkennen. Allerdings wird darauf nicht dezidiert eingegangen, vielmehr legen Interpretationsansätze in den Fließtexten den Gedanken nahe.
Zwei lokale Schwerpunkte sind in den Bildstrecken jedoch zu erkennen: Es gibt eine Bündelung der acht Projekte im urbanen Zentrum, dem Stadteil Rione Carità, sowie eine weitere Bündelung der drei Bauten des Messegeländes. Diese "Mostra Triennale delle Terre Italiane d'Oltremare", die "dreijährige Schau der italienischen Gebiete in Übersee", wurde in den 1940er Jahren durch die Faschisten angelegt. Inszeniert wurden die damals durch Italien besetzten Teile Nordost- Afrika.
In einem Seitenverweis in den Bildunterschriften findet sich eine erste Hilfestellung zum Bildverständnis. Schlägt man diese nach, gelangt man zum wahren Schatz dieses Buches, dem Architektur- Atlas, der in mittelgrauem Papier gehalten ist.
Architektur- Atlas
Auf über 100 Seiten haben die Herausgeber Dokumentationen aller 18 Gebäude erstellt. Jedes Projekt beginnt mit einem ganzseitigen Lageplan – alle im identischen Maßstab angelegt. Es folgt eine Kurzbeschreibung des Projektes, ergänzt um Kurzlebensläufe des oder der Architekten. Auf den folgenden Seiten schließen sich Grundrisse, Schnitte und Ansichten der Bauten an. Zudem werden überhaupt nur auf der Eingangsdoppelseite des Atlas die Hauptfassaden aller Projekte einmal gezeigt: Und damit beginnt das große Blättern!
Ungeschminkter Bildstil
Der Bildstil von Cyrille Weiner ist untypisch für Architekturaufnahmen. Weitgehend vermieden hat er Weitwinkelaufnahmen, auch hat er das jeweilige Setting höchstens unmerklich aufgeräumt. Alle Aufnahmen entstanden in Augenhöhe. Zwar hat er mit Shift- Objektiven gearbeitet, um "stürzende" Linien zu vermeiden, fotografiert hat er aber hauptsächlich mit einem Normalobjektiv, d.h. mit einer Brennweite, die der Raumwahrnehmung des menschlichen Auges entspricht. Fahrende Autos, Fußgänger hat Weiner billigend in Kauf genommen, genauso wie Absperrungen oder Mülltonnen. Das Resultat suggeriert dem Betrachter, selber vor Ort zu sein und ungefiltert alles zu sehen – auch das Unansehnliche, was das eigentliche Motiv "verschandelt".
Leider fehlt oft das typische Gesamtgebäudefoto. Womit es für das Gesamtgebäudeverständnis unerlässlich ist, auf die erwähnte erste Doppelseite des Architektur- Atlas zu blättern, wo allein sich diese Ansicht findet. Im eigentlichen Projektdossier versammeln sich, wie oben erwähnt, nur Grundrisse, Schnitte und weitere Ansichten.
Wird nun im Projekttext auf ein spezielles Detail hingewiesen, wie z.B. die anhand der technischen Zeichnung nachvollziehbaren vergoldeten Kapitelle des Teatro Mediterrano, dann bleibt nur die Suche einer entsprechenden Abbildung im vorderen Buchteil. Denn leider werden im hinteren Atlas die entsprechenden Bildseitenzahlen des vorderen Buchteils nicht genannt.
Publizistische Analogie zu Neapel
Leider sind bei manchen Bildunterschriften die Seitenverweise auf die Projektbeschreibungen nicht korrekt. An anderer Stelle erkennt man im Zuge des Buchstudiums die eigentliche Qualität gewisser Aufnahmen, die in ihren Bildunterschriften aber unerwähnt bleibt. Z.B. wird beim einzigen Weiner'schen Foto des Fischmarktes dieser in der Bildunterschrift mit keinem Wort erwähnt. Genannt wird lediglich – und dies ohne den typischen Seitenverweis – "Piazzo Muncipio" – eine im übrigen inkorrekte Aussage, da das Foto dort nicht entstanden ist. Auch hier zeigt sich: Das Buch will erarbeitet werden, um verstanden zu sein.
Der Verfasser dieses Beitrages neigt dazu, in dem Werk eine Analogie zum darin ausführlich beschriebenen und mitunter chaotisch anmutenden Städtebau Neapels zu erkennen. Insbesondere der Architekt Luigi Consenza, der mit dem eingangs erwähntem Fischmarkt das erste moderne Gebäude Neapels 1929-35 schuf, hat in seinem Spätwerk nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst mit dieser innovativen Kraft des Chaos gearbeitet. So nahm er die nachträgliche, aktive Veränderung der bereits benannten sozialen Wohnsiedlung im Stadtteil Cesare Battisti durch seine Bewohner bewusst in Kauf. Er legte die dortigen Balkone als zurückgesetzte Loggien an, die von den dahinterliegenden Wohnungen nur mittels nichttragender Wände abgetrennt sind. Dies bot die Möglichkeit, durch individuelles Versetzen der Außenwände die Wohnungen um die jeweiligen Balkonflächen zu erweitern und damit effektiv Wohnraum zu gewinnen. Mittlerweile sind diese "Erweiterungen" bei eigentlich allen Wohnungen geschehen und aus den ursprünglich durch die Loggien gegliederten Fassaden sind durchgehende Wandflächen entstanden.
Weiner war es zudem nicht möglich, alle 18 Objekte zu fotografieren. Viele sind derzeit baufällig und unzugänglich, wie etwa der besagte Fischmarkt, andere sind eingerüstet. Die Villa Oro, zweifellos mit ein Schlüsselbauwerk der neapolitanischen Moderne und des Buches, befindet sich dazu in Privatbesitz. Eine Abbildung dieser Villa fehlt spürbar im Buch. Es wäre dem Fotografen sicherlich möglich gewesen, eine typische Touristenaufnahme der Villa zu erstellen, wie sie – aufgenommen in starker Untersicht aus der Straßenschlucht darunter – vielfach im Internet zu finden ist.
Ein Reiseführer
Auch wenn das Buch in keine Hosentasche passt und sich kaum dazu eignet, in den Straßen Neapels durchgeblättert zu werden, besitzt es die Qualitäten eines Reiseführers. Natürlich bleiben die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt, wie etwa die Basilika Santa Chiara, das Castel Nuovo oder Pompeji, unerwähnt. Dennoch ist es ein wertvoller Leitfaden und bestens dazu geeignet, sich die Stadt auf einem Weg jenseits der gängigen Touristenpfade zu erschließen.
Bedauerlich ist dabei der Umstand, dass zwar die erwähnten Projektlagepläne existieren, es aber keinen Stadtplan gibt, der Aufschluss zu den Entfernungen der 18 Projekte untereinander gibt. So erschließt sich erst mit intensivem Studium, dass die acht Innenstadtprojekte fußläufig eng beieinander stehen: Sie hätten z.B. alle auf einen Lageplan gepasst. Aber es stellt sich die Frage, wie weit entfernt hiervon wohl das besagte Messegelände liegt und wo die anderen Projekte zu verorten sind.
Erst durch ein Abtragen aller Orte in einer Karte zeigt sich, dass westlich der großen Hauptbucht mit dem Stadtzentrum eine weitere Bucht folgt, wo die beiden exklusiveren Wohnprojekte und das Krankenhaus angesiedelt sind. Und noch einmal nordwestlich davon schließt sich das Messegelände an. Der wiederholt angesprochene Fischmarkt liegt hingegen im Südosten der Hauptbucht und das erwähnte soziale Wohnungsprojekt landeinwärts in einem östlichen Vorort.
Fazit
Das Buch gibt Denkanstöße, es regt zum Recherchieren über die Stadt Neapel an – und es lädt ein, diese Stadt einmal real zu besuchen und sie für sich zu entdecken.
https://www.baublatt.ch/bauprojekte/napoli-super-modern-architektur-der-moderne-in-neapel-30707
Napoli Super Modern
Hrsg: LAN Local Architecture Network, Benoit Jallon, Umberto Napolitano, Le Laboratoire R.A.A.R.
Erstausgabe, 2020
Hardcover
232 Seiten, 90 farbige Illustrationen, 140 Pläne (Grundrisse, Schnitte, Ansichten)
24 x 30 cm
ISBN 978-3-03860-218-7
CHF 49.00, Euro 48.00