Projektart:
Anfrage:
Objekt:
MuCEM
Typ:
Museum
Ort:
Marseille [Satellit]
Staat:
Frankreich
Architekt:
Rudy Ricciotti 🔗, Bandol
Materialien:
UHPC-Betonfertigteile, Glas
Publiziert:
Beton Bauteile-1 2014
Seiten:
8 - 16
Inhalt:
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MuCEM, Marseille

Beton ist mediterran!

Das Museum der europäischen Zivilisation und des Mittelmeeres (MuCEM) in Marseille nimmt man als Besucher als das kulturelle Epizentrum der diesjährigen Kulturhauptstadt wahr. Der abstrakt grau schillernde Kubus zeichnet sich prägnant an der Küstenlinie ab. Nicht nur seine Fassade, der ganze Solitär besteht aus Betonfertigteilen.
Marseille verdankt seine Gründung einem perfekten Naturhafen für Schiffe der Dimension antiker Galeeren. Nicht weit entfernt vom damals noch sumpfigen Mündungsdelta des auch seinerzeit bedeutsamen Flusses Rhône findet sich diese etwa 1.500 m tiefe und circa 200 m breite Bucht. Zwei seitlich sie flankierende Hügelketten von etwa 40 m Höhe schützen das natürliche Seebecken vor den Stürmen des Mittelmeeres. An deren Übergang zum offenen Meer finden sich zwei Festungsanlagen, die einst Ludwig der XIV errichten ließ. Sie sollten die Hafenzufahrt nach beiden Seiten hin kontrollieren. Entsprechend gibt es auch Geschützöffnungen, die landeinwärts auf die Stadt gerichtet sind. Unmittelbar neben dem westlich errichteten Fort St. Jean wurde das MuCEM errichtet. Seine Dachterrasse im 4. OG ist mit der Festung über eine 120 m lange, stützenlose Fußgängerbrücke aus 25 UHPC- Fertigteilen verbunden, die mit fünf armdicken Vorspannseilen zusammengepresst werden. Dies ist einer der beiden Zugänge des MuCEM, das der Architekt Rudy Ricciotti neu errichtet hat. Zudem kann man den Neubau auch über sein Erdgeschoss von der ehemaligen Hafenmole aus betreten.
Der Weg ist das Ziel
Der offizielle Reiseführer empfiehlt den Besuch des Museums der europäischen Zivilisation und des Mittelmeeres via Fort St. Jean. Dort werden historische Exponate gezeigt, die auf die kulturgeschichtliche Thematik der Ausstellung im MuCEM vorbereiten sollen. Das neue Museum betritt man dann – im wahrsten Sinne des Wortes – auf seiner mit Holz beplankten Dachterrasse. Sie ist gefasst von der 10 cm starken UHPC- Außenhaut des Gebäudes, welche die Freifläche um ein Geschoss überragt, nur um dann in eine gleichartige Konstruktion als horizontaler Dachabschluss überzugehen.
Von dieser Ebene gibt es zwei Wege hinab. Der eine führt durch eine Glastür hinein in den Ausstellungsbereich des MuCEM, der andere und vielleicht interessantere führt als stufenloser, abwärts geneigter Laubengang in zwei Runden direkt hinter den UHPC- Elementen herunter und endet unmittelbar neben dem Eingang im Erdgeschoss. Tatsächlich wird diese Passage als öffentlicher Weg angesehen, für den keine Eintrittskarte erforderlich ist. Auf diesem Fassadenpfad wandelt man wie in einem Märchenwald. Beim Hinabgehen gleiten rechter Hand die Fassadenelemente wie ein Laubvorhang vorbei, linker Hand nimmt man die eigentliche Tragkonstruktion des Bauwerkes wahr: baumartig wirkende Rundstützen, von denen in verschiedenen Höhen unsymmetrisch zweigartige Stützen vergleichbaren Ausmaßes abgehen und anschließend mit der nächsten Vertikalstütze wieder verschmelzen.
„So konnten wir die markanten und eher technisch wirkenden Diagonalstützen vermeiden“ erläutert Tillmann Reichert, der Projektleiter von Rudy RicciottiArchitecte das Detail. Er weist darauf hin, dass auch alle Baumstützen aus UHPC sind. Nur hat man diese hierfür mit Pigmenten dunkelgrau durchgefärbt, während der Fassadenbeton massiv in hellgrau angelegt wurde.
Homogenität durch Perfektion
Die Außenschale dient dazu, mit ihren zahllosen Öffnungen den kubischen Neubau effektiv zu verschatten. Die Außenhaut besteht aus drei verschiedenen, jeweils 3 x 6 m großen Modulen, die in verschiedenen Positionen (gedreht, auf dem Kopf stehend) aneinander gereiht wurden und so eine zufällige Anmutung erzeugen, die wiederum eine besonders homogene Fläche generiert. Die UHPC- Verschattungselemente beschreiben eine 72 x 72 m große Grundfläche und formen einen äußeren Kubus von 18 m. Da man sowohl von der Altstadt, wie auch vom Fort herab auf den Neubau schaut, begreift der Architekten das Dach als fünfte Fassade. Auch das Dach ist mit vergleichbaren Fertigteilen bedeckt. Die Horizontalfläche besteht dabei aus vier verschiedenen Modulen. Die Dachterrasse blieb hingegen ausgespart, nur ihre Ränder sind mit einer Elementreihe bedeckt. In subtiler Weise erzeugen sie einen Halbschatten, der an ein Laubdach erinnert. Statisch wirken die UHPC- Elemente mit ihren Öffnungen als eine Pfosten- Riegel- Konstruktion. Dabei nehmen Fasereinlagen die entsprechenden Zugkräfte auf. Die sechs übereinander angeordneten Fertigteile der Außenhaut sind allerdings nicht vorgehängt, sondern stehen als Last aufeinander. Die sichtbaren Edelstahlanker dienen nur der horizontalen Fixierung.
UHPC gegen Korrosion
Von Anbeginn der Planung war der Korrosionsschutz der Konstruktion ein bedeutendes Thema. Eine Konstruktion aus UHPC lag daher nahe. Die Bestandteile des geschlossen-porigen Materials besitzen eine fast staubartige Konsistenz, dazu wird UHPC nicht mit korrosionsanfälligem Stahl, sondern mit Fasern bewehrt. UHPC besitzt eine enorme Druckfestigkeit. Auf Zug belastet vermag er jedoch seine Vorteile nicht auszuspielen. Ricciotti hatte die entscheidende Idee, die gesamte Gebäudekonstruktion massiv vorzuspannen. Dadurch wird keines der Bauteile – auch nicht die 120 m lange Brücke – auf Zug beansprucht. Trotzdem war es mit UHPC möglich, alle Bauteile ungeahnt schlank und vollkommen korrosionsfest auszuführen.
Konstruktion des MuCEM
Nicht nur die das Gebäude verschattende Außenhaut, auch die eingangs erwähnte, tragende Rundstützenreihe, die den musealen Kernbau umschließt, ist aus UHPC. Der Durchmesser der Baumstützen nimmt nach oben hin geschossweise von 45 cm auf 25 cm ab, dabei haben die Fertigteile immer nur die Länge von einem Geschoss. In jedem Geschoss wurde auf diese Stützenreihe in Ortbetonbauweise ein Ringanker aufbetoniert. Mit dessen Belastbarkeit nach dem Abbinden legte manachsenweise jeweils 24 m weit spannende Fertigteildecken darauf. So war es möglich, den 50 m langen Kernbau mit nur einem Wandauflager in seiner Mittelachse abzudecken. Als schließlich alle vier Geschosse mit Hilfe genau eingemessener Leergerüste errichtetet waren, fädelte man in die mit Leerrohren versehenen UHPC- Stützen bis zu 13 cm starke Zugkabel ein. Anschließend begannen die Ingenieure, die Konstruktion mit einer Last von 120 t unter Zug zu setzen. Danach erst war der Rohbau selbsttragend und die ihn stützenden Leergerüste konnten demontiert werden.
Beton kommt vom Mittelmeer
Der Architekt Rudy Ricciotti verweist gerne darauf, dass die Römer mit dem Opus Caementitium quasi den heutigen Beton erfunden haben. Selbst eine Bewehrung kannten die antiken Baumeister in Ansätzen schon, wie der Baugeschichtler Dr.-Ing. Alexander von Kienlin jüngst nachgewiesen hat. Mit diesem römischen Ursprung begreift Ricciotti das Baumaterial als mediterran und somit als typisch für die dortige, Grenzen überschreitende Kulturlandschaft.
Während der Planer also den Baustoff Beton vor allem einer Anrainerkultur zuschreibt, will er mit der durchbrochenen Textur in abstrakter Weise einen Bezug zum Meer herstellen. Die aus zahlreichen amorph geformten Öffnungen haben keinen geometrischen Charakter. Erinnern sollen sie vielmehr an das Schattenspiel, dassich ergibt, wenn man bei ruhiger See auf die Felsen am Meeresgrund blickt und dabei wahrnimmt, wie sich die Risse und Fugen zwischen ihnen durch die dynamische Brechung an der Wasseroberfläche ständig zu verändern scheinen. Reichert ist es wichtig festzustellen, dass die UHPC- Außenhaut nicht die Felsen an sich, sondern vielmehr diesubmarinen Fugen dazwischen darstellen soll. Die Außenhaut desMuCEM ist somit für ihn eine gebaute Struktur der Risse, also das, was zwischen den Felsen auf dem Meeresgrund glänzt und funkelt.
Robert Mehl, Aachen