Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Formel 1 Rennstrecke Schanghai
Typ:
Rennstrecke, Tribünen
Ort:
Schanghai [Satellit]
Staat:
VR China
Architekt:
Tilke GmbH 🔗, Aachen
Materialien:
Beton, Betonfertigteile
Publiziert:
DBZ 02/2005
Seiten:
52 - 57
Inhalt:
[Artikel]  [2]      
 

Formel-1-Rennstrecke in Shanghai / CN

Entertainment auf der Zielgerade

Chinesen wollen anders unterhalten werden als Europäer. Das fällt besonders dann auf, wenn es um den Genuss eines globalen Konsumgutes wie etwa Autorennen geht. Die neue Formel-1-Rennstrecke in Schanghai ist, obwohl sie von deutschen Architekten errichtet wurde, dafür ein gutes Beispiel.
Die Rennstrecke liegt im Nordwesten etwas außerhalb von Schanghai. Das Areal zählt zum Bezirk Jiading, einem sumpfigen Gebiet im Mündungsdelta des Jangtsekiangs. Gut angebunden durch den Jia Liu Expressway und der neuen Suburban Ring Road nähern sich die Zuschauer der Rennstrecke entweder mit dem eigenen Fahrzeug oder einem öffentlichen Verkehrsmittel. Die Parkplätze sind den benachbarten Tribünenblöcken zugeordnet, so dass der Besucher im Normalfall nur kurze Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen hat. Etwa drei Viertel der 200 000 Sitzplätze befinden sich auf mobilen Tribünen, die entlang der Rennstrecke errichtet wurden. Ihnen vorgelagert ist eine breite Ringstraße, auf der Imbissstände stehen können und sich 27 fest installierte WC- Anlagen befinden.

Weltliche Umsetzung

Wahrzeichen des Areals ist die exakt in Ost- West- Richtung orientierte Haupttribüne. Jeweils an ihren Stirnseiten besitzt sie ein an eine Tragfläche erinnerndes Brückenbauwerk, unter dem torartig die Rennstrecke hindurchgeführt wird. Während der östliche dieser Fischbauch- Träger das Pressezentrum beherbergt, nimmt der westliche ein exponiertes Restaurant auf. Getragen werden diese Elemente von zwei Rundtürmen unterschiedlicher Größe: Im Süden ist es jeweils ein im Umfang kleinerer, rot-massiver Zylinder; im Norden dagegen ein größerer, vollständig verglaster Rundling. Während die beiden südlichen Türme der Haupttribüne ein wenig vorgelagert sind und deren Erschließung aufnehmen, dient der nordöstliche Bau als Kontrollturm und die nordwestliche Einheit der Verwaltung.
Zwischen den beiden Torstellungen ist der Start- Ziel- Bereich sowie die Boxengasse angeordnet. Über den Serviceeinheiten der Rennställe liegt parallel zur Tribüne der langgestreckte VIP- Bereich. Daran schließt sich nach Norden zunächst die Freifläche des Fahrerlagers an und dahinter schließlich das so genannte Teamdorf. Hier gruppieren sich 18 moderne Kleinarchitekturen um einen See. Die Unterkunft der Rennfahrer wurde in der Formsprache dem bekannten Yu- Yuan- Garten in Schanghai nachempfunden.
Im Südosten der Rennstrecke befindet sich die sogenannte Lotusarena. Ihre Besonderheit ist das direkte Gegenüber von Zuschauern auf zwei Tribünen: So soll eine stadionartige Atmosphäre erzeugt werden. Im Blick liegt dabei eine Haarnadelkurve, welche die Fahrer zu starken Brems- und Beschleunigungsmanövern nötigt, die wiederum auf den Geraden entlang der beiden Tribünen ausgeführt werden.
Schatten erhalten die Zuschauer hier durch große, den Blättern der Lotusblume nachempfundenen Stoffsegel. Das teflonbeschichtete Glasfaservlies besitzt im Neuzustand einen leichten Ockerton und soll im Laufe der Zeit zu einem reinen Weiß ausbleichen.
Die eigentliche Fahrbahn ruht auf einer nagelbrettartigen Matrix von Betonpfählen, die in den sumpfigen Untergrund getrieben wurden. Nach einer Drainage und Ausgleichsschicht aus Kies folgt eine bis zu sieben Meter starke Schicht aus EPS- Hartschaumplatten (insgesamt 343 000 m³), aus denen das Höhenrelief der Rennstrecke modelliert wurde. Der eigentliche Straßenbelag wurde erst darüber aufgebaut.

Spirituelle Umsetzung

Wo dem abendländisch sozialisierten Menschen letztendlich ein durchdachter Nutzbau zumeist in Form einer Tribüne reicht, legt der chinesische Konsument gesteigerten Wert auf eine adäquate Metaphorik, die sowohl der Funktion des Gebäudes wie auch der in China allgegenwärtigen Mystik gerecht wird.
Tatsächlich kann die Kenntnisnahme von in dieser Hinsicht ungünstigen Details den Besuch einer Veranstaltung nachhaltig verleiden oder sogar zur gänzlichen Meidung des Austragungsortes führen. Die Zahl Acht beispielsweise klingt ähnlich dem Wort für Reichtum: Dass der Entwurf der Tribünenkonstruktion auf einem Stützenraster von acht Metern beruht, wird als sehr günstig bewertet. Die Zahl Vier klingt dagegen wie das Wort für Tod. Sie sollte weitgehend gemieden bzw. umschrieben werden. Deshalb wurden die vier runden Eckbauten nicht identisch, sondern als gleiche Paare ausgeführt.
Von ihrer metaphorischen Bedeutung werden diese Elemente den landestypischen Löwen- und Drachendarstellungen gleichgestellt, die wichtige Durchlässe bewachen. Ihre Verwendung soll den Torcharakter des gesamten Bauwerkes unterstreichen und darauf hinweisen, dass sich dieser wie auch seine Bauherrin, die Stadt Schangai, als Tor Chinas zur Welt verstehen.
Bei der Farbgestaltung der Anlage wurde auf die häufige Verwendung von Rot und Gold geachtet. Sie symbolisieren nicht nur die Landesfarben, sie stehen auch traditionellerweise für Glück und Macht. Die Farben finden sich sowohl bei der Bestuhlung der Sitzränge wie auch in der Verglasung der zylindrischen Occuli im Dach der Haupttribüne.
Schließlich ist die Rennstrecke selber der Form des chinesischen Schriftzeichens "Schang" nachempfunden worden, dem ersten Zeichen in der Überschrift dieses Beitrages. Es steht für die positiv besetzten Attribute "hoch" und "oben" und bildet gleichzeitig die erste Silbe im Namen der nahen Metropole. Durch eine besondere Illumination der Rennstrecke ist das Schriftzeichen auch nachts vom Flugzeug aus zu erkennen und formt - darauf ist man besonders stolz - das größte Schriftzeichen der Welt.
Dass die Vermittlung von Selbstbewußtsein eine erbauliche Qualität hat, ist nicht neu. Dass diese zugleich unterhaltend sein kann, scheint mit diesem Beispiel erfolgreich belegt.
Robert Mehl, Aachen